Bewertungen sind eine menschliche Spezialität und damit sind wir uns selbst oft der größte Feind. Das, was wir über uns glauben, bestimmt unsere Handlungen. Wir wollen möglichst perfekt sein, niemand soll unsere Mängel bemerken. Wir setzen uns Masken auf oder verhalten uns einem Rollenbild entsprechend. Aber sind wir dann auch echt und wahrhaftig?

Den Pferden können wir nichts vormachen. Weil sie in der Natur eine Beute darstellen, haben diese hochsensiblen, wachsamen Tiere ein ausgesprochen stark entwickelte Fähigkeit, feine Veränderungen in der Muskelspannung, im Atem und im allgemeinen Erregungslevel wahrzunehmen.

 

Matthias kam zum Coaching, weil er das Gefühl hatte, in seinem Leben „festzustecken“. Wir hatten uns vorab schon ausführlich mit seinen Zukunftsvisionen beschäftigt. Bei der Übung mit meiner Stute Sara wollte er nun herausfinden, was ihn denn an deren Verwirklichung hindert.

Ich erläuterte ihm die Aufgabe. Er sollte das Pferd ohne Halfter eine bestimmte Strecke bis zum (mit Pylonen markierten) Ziel führen. Das Pferd wäre vollkommen frei in seinen Entscheidungen.

Matthias machte sich an die Bewältigung dieser Aufgabe. Er ist schon geübt im Umgang mit den Pferden und die ersten Meter folgte ihm Sara gerne. Zwei Meter vor dem Ziel drehte sie sich plötzlich um und lief zurück zum Ausgangspunkt. Matthias stand verblüfft da. Ich fragte ihn:
„Was hast du dir gerade eben gedacht?“
„Es war ja klar, dass es so gekommen ist …“ antwortete er niedergeschlagen. Ich schüttelte den Kopf.
„Ich meine, was hast du dir in der Sekunde, bevor das Pferd abgebogen ist, gedacht?“
Matthias überlegte.
„Ich habe ich mir gedacht: jetzt wird’s schwierig!“
„Genau. Und weil du an dir gezweifelt hast, es aber nicht zugeben wolltest, hat dich Sara verlassen. Wo in deinem Körper spürst du diesen Zweifel?“
Matthias legte die Hand auf seinen Solarplexus.
„Hier fühlt es sich an, wie wenn ein harter Knödel in mir liegt.“
„Bleibe bitte in Kontakt mit diesem harten Knödel und mit deinem Zweifel und probiere es noch einmal, mit Sara das Ziel zu erreichen.“
Matthias lud die Stute ein, ihm zu folgen und diesmal erreichten sie problemlos das Ziel. Ich bat ihn, noch mal in seinen Solarplexus hineinzuspüren.
„Da ist kein Knödel mehr“, sagte er überrascht. „Der hat sich aufgelöst!“

Durch das Zusammenleben mit Menschen haben Pferde verfeinerte emotionale Fähigkeiten entwickelt. Der Erregungslevel eines Pferdes steigt, wenn der Mensch in seiner Nähe oder auf seinem Rücken selbstsicher zu sein glaubt, während er in Wirklichkeit zweifelt oder Angst empfindet. Wir sprechen dann von einem inkongruenten Verhalten: die Körpersprache (zB glückliches Gesicht) stimmt nicht mit dem erhöhten Blutdruck, der Muskelspannung und dem emotionalen Erregungslevel (als körperlicher Ausdruck für unterdrückte Gefühle) überein.
Pferde spiegeln oft genau jenes Gefühl, das unterdrückt wird. Sie beruhigen sich in dem Augenblick, in dem der Mensch das Gefühl anerkennt – auch wenn das Gefühl bestehen bleibt. Dieser Punkt ist wichtig: das Gefühl muss sich nicht ändern, damit das Pferd ruhig wird. Der Mensch muss es sich nur bewusst machen!